Stille Panikattacken: Erkennung und Diagnose
Medizinisch fundierte Analyse atypischer Panikattacken ohne sichtbare Symptome. Mit diagnostischen Kriterien und klinischen Abgrenzungsmerkmalen.
Klinische Definition
Stille Panikattacken sind atypische Panikattacken mit überwiegend innerlichen, nicht sichtbaren Symptomen. Sie erfüllen die ICD-10 Kriterien für Panikattacken (F41.0), manifestieren sich jedoch hauptsächlich durch kognitive und emotionale Symptome ohne deutliche somatische Außenwirkung.
Pathophysiologie stiller Panikattacken
Neurobiologische Grundlagen
Amygdala-Aktivierung:
- • Überaktivierung der Amygdala
- • Fehlalarm des Warnsystems
- • Ausschüttung von Stresshormonen
- • Aktivierung des sympathischen Nervensystems
Internalisierung der Reaktion:
- • Unterdrückung äußerer Symptome
- • Verstärkte kognitive Verarbeitung
- • Erhöhte Selbstkontrolle
- • Internalisierte Katastrophengedanken
Diagnostische Kriterien stiller Panikattacken
ICD-10 Modifikation für stille Panikattacken
Erfüllte Standardkriterien (F41.0):
- ✓ Plötzlicher Beginn intensiver Angst
- ✓ Höhepunkt innerhalb weniger Minuten
- ✓ Mindestens 4 Symptome aus dem DSM-5/ICD-10 Katalog
- ✓ Dauer typischerweise 5-20 Minuten
Besonderheiten stiller Panikattacken:
- • Überwiegend kognitive und emotionale Symptome
- • Minimale oder fehlende somatische Außenwirkung
- • Starke Internalisierung der Angstreaktion
- • Oft unbemerkt von Außenstehenden
- • Erhöhte Selbstkontrolle während der Attacke
Symptomprofil im Detail
Dominante Symptome
- Kognitive Symptome:
- • Katastrophisierende Gedanken
- • Gefühl des Kontrollverlusts
- • Derealisation/Depersonalisation
- • Konzentrationsstörungen
- • Todesangst (innerlich erlebt)
- Emotionale Symptome:
- • Intensive innere Panik
- • Gefühl der Isolation
- • Hilflosigkeit
- • Verzweiflung
- • Emotionale Taubheit
Minimale/Fehlende Symptome
- Somatische Symptome:
- ○ Kaum sichtbares Schwitzen
- ○ Kontrolliertes Zittern
- ○ Unterdrückte Hyperventilation
- ○ Versteckte Körperreaktionen
- Verhaltensebene:
- ○ Äußerlich ruhiges Verhalten
- ○ Keine Fluchtreaktion
- ○ Funktionsfähigkeit bleibt erhalten
- ○ Maskierung der Symptome
Klinische Fallbeispiele
Fall 1: Stille Panikattacke in der Öffentlichkeit
Patientin: Anna, 28 Jahre, Lehrerin
Situation: Während einer Elternversammlung in der Schule
Verlauf: Plötzlich auftretende intensive Todesangst und Derealisation. Gedanken wie "Ich verliere den Verstand" und "Alle werden es merken". Äußerlich bleibt sie ruhig, führt das Gespräch weiter, während innerlich intensive Panik herrscht.
Symptome: Katastrophengedanken, Derealisation, innere Panik, Kontrollverlustangst. Keine sichtbaren körperlichen Symptome, normale Sprache und Gestik.
Diagnose: Stille Panikattacke - erfüllt F41.0 Kriterien mit überwiegend kognitiv-emotionaler Symptomatik bei erhaltener äußerer Funktionsfähigkeit.
Fall 2: Stille Panikattacke am Arbeitsplatz
Patient: Thomas, 35 Jahre, Bankberater
Situation: Während einer wichtigen Kundenpräsentation
Verlauf: Mitten in der Präsentation setzen intensive Angstgedanken ein: "Ich kann nicht mehr", "Gleich kollabiere ich". Gefühl der Unwirklichkeit und emotionalen Taubheit. Präsentation wird erfolgreich beendet.
Symptome: Depersonalisation, Katastrophisierung, innere Panik, emotionale Abspaltung. Kompensation durch erhöhte kognitive Kontrolle.
Diagnose: Stille Panikattacke mit Depersonalisation - klassische Panikstörung mit atypischer, internalisierter Symptompräsentation.
Differentialdiagnostische Abgrenzung
| Merkmal | Stille Panikattacke | Klassische Panikattacke | Generalisierte Angst |
|---|---|---|---|
| Beginn | Plötzlich, innerlich | Plötzlich, sichtbar | Schleichend |
| Äußere Sichtbarkeit | Nicht erkennbar | Deutlich sichtbar | Gering sichtbar |
| Hauptsymptome | Kognitiv-emotional | Körperlich-vegetativ | Sorgen-basiert |
| Funktionsfähigkeit | Erhalten | Stark eingeschränkt | Mäßig eingeschränkt |
| Dauer | 5-20 Minuten | 5-20 Minuten | Anhaltend |
Diagnostisches Vorgehen
Klinische Exploration
Anamnestische Schlüsselfragen:
- • "Haben Sie schon einmal intensive Angst erlebt, die andere nicht bemerkt haben?"
- • "Gab es Situationen, in denen Sie innerlich panisch waren, aber normal funktioniert haben?"
- • "Erleben Sie manchmal Unwirklichkeitsgefühle oder emotionale Taubheit?"
- • "Haben Sie das Gefühl, Ihre Angst vor anderen verstecken zu müssen?"
Diagnostische Instrumente:
- • Panic Disorder Severity Scale (PDSS)
- • Hamilton Anxiety Scale (HAMA)
- • Agoraphobic Cognitions Questionnaire (ACQ)
- • Spezifische Fragen zu stillen Panikattacken
Therapeutische Implikationen
Angepasste Behandlungsstrategien
Kognitive Verhaltenstherapie (modifiziert):
- • Identifikation kognitiver Verzerrungen
- • Dekastrophisierung von Gedanken
- • Exposition bei internalisierten Ängsten
- • Akzeptanz- und Achtsamkeitsansätze
Spezielle Interventionen:
- • Emotionsregulationstraining
- • Körperwahrnehmungsübungen
- • Selbstmitgefühl-Techniken
- • Externalisierung der Symptome
Wichtiger Hinweis
Diese Informationen ersetzen keine professionelle medizinische Beratung. Bei anhaltenden Beschwerden suchen Sie bitte einen Arzt oder Psychotherapeuten auf.